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30. April 2019Führung zwischen Autorität und Sinn
Während einer kürzlich unternommenen dreiwöchigen Myanmar-Reise hat mich die Frage beschäftigt, wo wir (also wir Führungskräfte, Manager, Berater in Deutschland und sagen wir mal im deutschsprachigen Raum) Führung gedanklich implizit ansiedeln auf dem Kontinuum zwischen Autorität und Sinn.
Es liegt mir an dieser Stelle fern, die wohlbekannten Autoren und Veröffentlichungen zur situativen Führung, zu Sinn- und Positionsmacht, zur sinngetriebenen Organisation u.ä. zu bemühen. Diesen Blog möchte ich nutzen können (dürfen), um meine Gedanken mit dem geneigten Leser zu teilen – ohne wissenschaftlichen Anspruch, ja gerne: auch Gedanken aus dem Bauch heraus.
In Myanmar habe ich täglich beobachten können, wie „Führung“ dort funktioniert:
- Bei den ganz schrecklich unmenschlichen Aufgaben stand ein Aufpasser (immer männlich) in unmittelbarer Nähe der Arbeiterinnen. Die „Führungsspanne“ lag auf den ersten Blick bei 5 – 6 ArbeiterInnen. In unserer Reiseliteratur war hier und da von Zwangsarbeit die Rede; bewaffnete Aufpasser habe ich zwar keine gesehen, gleichzeitig ließ mich die Frage nicht los, ob das Beobachtete nicht ein Beispiel für Zwangsarbeit darstellte?
- Jedenfalls handelet es sich bei dieser Art Arbeit um die brutalste Schufterei: Es waren die vielfachen Straßenbaustellen, die wir aus unmittelbarer Nähe – aufgrund der verstopften Straßen manchmal über eine halbe Stunde lang – beobachten konnten. Mit Flip-Flops an den Füßen und mit nackten Händen „kratzten“ Jungen und Männer enorme Steinbrocken aus der steilen Felswand (direkt an der „Autobahn“). Hier und da stand schweres Gerät, manchmal in einem so steilen Winkel (zur Straße hin), dass uns Angst und Bange wurde, in der Schusslinie des Geräts stehen zu müssen. Wenige Meter hinter dem Gerät stand jeweils ein junger Mann (in Schlappen); was genau seine Aufgabe war, haben wir nicht verstanden.
- Die großen Felsbrocken wurden bis auf das Straßenniveau heruntergetragen (oder gerollt). An dieser Stelle, wo sich die Brocken am Straßenrand häuften, standen sogar ein paar Männer in Arbeitsschuhen. Sie sahen wie traurige Charly Chaplins aus, denn die Schuhe waren ihnen offenbar mehrere Schuhgrößen zu groß und daher schlurften sie zwischen den Steinen hin und her, darum bemüht, den wertvollen Schutz um ihre Füße dabei nicht zu verlieren. Socken konnten wir an den dürren Knöcheln nicht entdecken.
- Auch bei den Straßenarbeiterinnen, die zu unserer Überraschung an jeder Straßenbaustelle zu sehen waren, gab es einen Aufpasser für nur wenige Frauen. Die Aufgabe der Frauen bestand darin, die großen Felsbrocken mit einem Steinpickel zu zerkleinern. Während die einen mit dem Werkzeug auf die Steine schlugen, dass die Funken sprühten, nahmen die anderen in unmittelbarer Nähe zur springenden Spitzhacke die Brocken vom Boden auf und türmten sie auf einen Haufen. Von diesem Haufen legten die Frauen ca. 20 Steine auf eine Art rundes Metalltablett, das sie dann aufgrund des offenbar enormen Gewichtes zu zweit, manchmal zu dritt anheben mussten (hier kam hin und wieder der nahestehende Aufpasser dazu, da zwei Frauen es gemeinsam nicht schafften), um es auf den Kopf der Arbeiterin zu hieven. Mit dieser unglaublichen Last auf ihrem Haupt kraxelte die Arbeiterin in ihren Flipflops zu dem nächsten Aufpasser, der ca. 30 m entfernt stand und ihr wiederum half, den Transportbehälter von ihrem Kopf auf den Boden zu befördern. Auf diesen 30 m Wegstrecke rutschten die Frauen mit ihren Schlappen zwischen den scharfkantigen Steinen entlang, knickten hier und da um – ihr Kopf mit der Ladung aber blieb gerade, als sei er von unsichtbaren Seilen getragen.
- Die nächste Kategorie von Arbeit schien uns zwar nicht so unmenschlich hart zu sein, dennoch kann man sich vorstellen, dass ihre Verrichtung unter den gegebenen Umständen nicht gerade zu Erfüllung und Glück beiträgt. Hier ging es um Frauen bei der Pflege von Garten- bzw. Parkanlagen in der Nähe berühmter und für Touristen aufgehübschter Monumente (Tempel, Stadtmauern, Pagoden …). Die Führungsspanne schien dabei wesentlich größer: Ein Aufpasser kontrollierte Wirken und Tun von etwa 20 Arbeiterinnen. Die Frauen „sensten“ das Gras mit Schneidewerkzeug in der Größe einer Nagelschere; angesichts des damit produzierten Ergebnisses schien das eingesetzte Werkzeug die Schärfe von Kinder-Bastelscheren zu haben. Wir haben auf Märkten und in kleinen Dörfern durchaus häufig scharfe Macheten und große Messer gesehen; offenbar zog man es vor, die Arbeiterinnen nicht damit auszustatten.
- Bei Tätigkeiten mit höherer Komplexität reduzierten sich die Führungsspanne einerseits und die physische Nähe der „Führungskraft“ zum Team anderseits sichtbar. Beispiel: Housekeeping in einer einfachen Hüttenanlage am Strand. Hier kam die Chefin (eine Frau!) tatsächlich mit bis zum Hütteneingang, entfernte sich dann aber zeitweise, so dass die zwei oder drei jungen Frauen die Hüttenzimmer in gewisser Autonomie herrichteten.
Die Hütten wurden der Reihenfolge nach gereinigt. Wenn also Hütte Nr. 5 fertig war und sich die Gäste aus Hütte Nr. 6 noch nicht zum Frühstück begeben hatten, legten sich die Housekeeping Damen in die unweit der Hütte angebrachten Hängematten und warteten. Dass die Hütten Nr. 7 und folgende schon längst geräumt waren, schien keinen Einfluss zu haben. Sie warteten so lange vor der jeweiligen Hütte, bis sie ihre Arbeit schön der Reihe nach erledigen konnten – es sei denn, die Chefin griff ein und organisierte das anders. Ohne Anweisung der Führungskraft wurde an der Reihenfolge nichts geändert.
Diese Beispiele ließen sich fortführen. Insbesondere in kleinen und größeren lokalen Restaurants, auf Märkten, in kleinen Werkstätten oder in größeren Kaufhäusern konnten wir Ähnliches beobachten. Ich kann natürlich nicht beurteilen, wie es bei einer anspruchsvolleren oder intellektuellen Arbeit aussehen mag. Wir hatten einmal die Ehre mit einem alten Mönch, Vorsteher eines Klosters und Oberster Mönch eines großen Einzugsgebiets, zu Mittag zu essen. Es ergab sich durch Zufall. Der Mönch war fast taub und blind und schien nur schemenhaft mitzubekommen, was in seiner Umgebung vor sich ging. Allerdings entging es seiner schwachen Aufmerksamkeit nicht, dass wir das Kloster mit einer kleinen Spende versahen. Er lud uns daraufhin ein, den Raum während seines Mahls mit ihm zu teilen. Die Mönche, die ihn umsorgten und in allernächster Nähe um ihn herumsaßen, betrachteten uns nur kurz aus dem Augenwinkel heraus; ihre Aufmerksamkeit war ganz und gar ihrem Meister gewidmet. Erst nachdem der Obermönch, eine ganze Weile nachdem wir Platz genommen hatten, ein Handzeichen machte, sprangen sie auf und reichten uns ein paar Gebäckstücke. um sie mit ihnen und ihrem Meister zu teilen. Auch hier hatten wir den Eindruck uns in einer streng hierarchisch geführten Organisation zu befinden.
Ich bin zurück in Deutschland und längst wieder in den Berateralltag eingetaucht. Vor mir liegt ein Fachbuch zum Thema „Sinngeführte Organisationen“. Mit einem unserer Teams arbeiten wir an einem Projekt, in dem es um „neue Arbeitswelten“ geht. Führung ist in diesen Kontexten das diametrale Gegenteil von dem, was ich in Myanmar gesehen habe.
Es gibt aber auch hierzulande genügend Beispiele für Führung, die eher mit „Ziele vorgeben und jeden Schritt kontrollieren“ umschrieben werden könnte – und ich meine nicht unbedingt den Bereich „sinnarmer“ Tätigkeiten. Und glücklicherweise sind wir weit entfernt von Arbeitsbedingungen, wie wir sie in Myanmar haben beobachten können.
Kann es denn gelingen, Menschen für ein Ziel zu inspirieren, für eine Tätigkeit zu gewinnen, wenn die Verrichtung an sich oder die Arbeitsumstände, die sie begleiten, unmenschlich hart, eintönig, anstrengend sind?